jesus

Solange der „Schmachtlappen“ hing dauerte die Fastenzeit. Das Fastenvelum war nicht bloss Dekor und Zeitanzeige. Schon um 1000 wird der Brauch erwähnt, in der Fastenzeit vor dem Altar ein Velum, das Fastenvelum aufzuhängen. In einem meist rasterförmigen Bildaufbau wurde die Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Weltende erzählt oder aber Tier-, Pflanzen- oder andere Motive dargestellt. In einer alten Handschrift aus Augsburg heißt es über das Hungertuch:

„Darin [in der Fastenzeit] eszen sie 40 tag kein fleisch, auch nit milch, kesz, ayr, schmalz, dann vom remischen stuel erkaufft. Da verhüllt man die altar und hayligen mit einem tuech und last ein hungertuech herab, daz die syndige leut die götz nit ansehen".

Die Hungertücher sind Objekte eines mittelalterlichen Fastenbrauches, der Verhüllung des Altars durch das Fastenvelum, das später zum Symbol für Fasten und Buße wurde. So heisst es etwa in den Predigten Geilers von Kayserberg über das „Narrenschiff": „Dich soll leren das Hungertuch, so man ufspannt, Abstinenz und Fasten."

Aufgehangen wurde das Fastentuch zu Fastenbeginn am Aschermittwoch. Es hing im Chorbogen der Kirche vor dem Hauptaltar, verhüllte den Altar und konnte, da meist zweigeteilt, zur Seite gezogen werden. Das Fastentuch blieb hängen bis zur Komplet am Karmittwoch. Wenn aus der Passion zitiert wurde: „et velum templi scissimum est medium" (und der Vorhang des Tempels riß mitten durch), wurde das Tuch herabgelassen. Die dadurch begründete Redensart: „Das Fastentuch ist gefallen" bezeichnete - direkt und indirekt - das Ende der Fastenzeit.

Hungertücher zur Altarverhüllung

verweisen auf die religiösen Verhüllungs- und Sichtbarkeitsriten. Sie finden sich nicht nur im Kult der Ostkirche, der Ikonostase. Die Altarverhüllung der Westkirche während der Passionszeit steht in enger Verbindung mit der Verhüllung des Kreuzes, der Bilder und Reliquiare, welche seit frühchristlichen Tagen bekannt ist. Die Westkirche hat eine Vorliebe für die Schaubarkeit kultischer Mysterien entwickelt, so dass sie keine ständige Verhüllung, sondern bloss eine zeitweilige kennt. Die Altarverhüllung in der Fastenzeit galt als Bussübung der Gläubigen in der Fastenzeit. Als Gründe für dieses Fastenbrauchtum werden angeführt:

  • die so auch äusserlich sichtbare Unwürdigkeit der Gläubigen während der Busszeit,
  • die Verhüllung der Gottheit Christi während seiner Passion,
     

Es gibt eine Parallele zwischen dem Vorhang des Tempels, der mitten entzwei riss und dem Fastentuch. Das Zerreissen des Tempelvorhanges zeigt auf den Opfertod Christi. Das „Herabfallen" des Fastentuches verweist auf die bevorstehende Auferstehung. Die Entfernung des Fastentuchs vor der Osternacht verdeutlichte, dass Christus wieder unverhüllt in göttlicher Herrlichkeit vor den Menschen steht, dass er den Himmel geöffnet hat und dass er die Blindheit des Herzens weggenommen hat, welche hinderte, das Geheimnis seines Leidens zu verstehen.

Der Gebrauch des Fastentuches änderte sich mit den theologischen Auffassungen. In der Gotik entstand ein „Sichtbarkeitskult". Das "Sehenwollen" des Mysteriums und damit des Altarsakramentes wurde gefordert. In dieser Zeit entstanden Monstranzen und Ostensorien oder Reliquiare für die Reliquien. Die Lettner in den Kirchen, die sich dort befanden, wo später die Kommunionbank stand, und die somit den Blick in den Chorraum der Kirche einschränkten, fielen dem neuen Bedürfnis ebenso zum Opfer wie die Fastentücher. Sie erhielten nun kleinere Ausmasse und wurden so hoch in den Chorbogen gehangen, dass der Blick auf das Altarsakrament nicht versperrt wurde. Dadurch änderte sich die Funktion der Fastentücher: Ihr Aushängen bezeichnete nun nur noch die Buss- und Fastenzeit.

Hochblüte der Hungertücher

im 14./15. Jahrhundert in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und England hatten die Hungertücher ihre Hochblüte. Dieser Fastenbrauch scheint von den Klöstern, wahrscheinlich den Nonnenklöstern, ausgegangen zu sein und hat sich über die Stifts- und Kathedralkirchen in die Pfarrkirchen ausgebreitet.

Mit Beginn der Neuzeit verflüchtigte sich dieser Brauch. An einzelnen Orten erlebte das Hungertuch im 16. und 17. Jahrhundert einen erneuten Auftrieb.

Nach dem II. Vatikanischen Konzil wurde der Brauch durch die Bischöfliche Aktion "Misereor" 1976 neu belebt: Alle zwei Jahre erstellt ein Künstler ein neues Hungertuch, das in Kopie in vielen Kirchen aufgehangen wird und die Fastenzeit kennzeichnet, in der das Ersparte den Armen zukommen soll.

Unsere Redewendung, „am Hungertuch nagen"

geht auf diese Fastentücher zurück und meint: hungern, darben, ärmlich leben, kümmerlich vegetieren. Ursprünglich hiess es wohl:

Am Hungertuch „naejen" = nähen
d.h. ärmlich, kümmerlich leben. In diesem Sinn auch: „Ich web’ euch nur ein Hungertuch" in Freiligraths Gedicht „Aus dem Schlesischen Gebirge" von 1844. Nach Dr. Manfred Becker-Huberti